
Warum wir in der Forschung mehr Daten über Frauen brauchen – und was KI damit zu tun hat
In einer Welt, die zunehmend auf Daten basiert, ist es essenziell, dass diese Daten alle Menschen repräsentieren. Doch genau hier liegt das Problem: Frauen werden in wissenschaftlichen Studien, in medizinischer Forschung und zunehmend auch in KI-Systemen immer noch systematisch übersehen oder nicht berücksichtigt. Die Folgen reichen von schlechterer medizinischer Versorgung bis hin zur technologischen Reproduktion von Diskriminierung. Der sogenannte Gender Data Gap oder Gender Science Gap beschreibt diese Lücke der systematischen Unterrepräsentation von Frauen in der Forschung sowie die mangelnde Berücksichtigung weiblicher Perspektiven in wissenschaftlichen Daten und Studien.
Wenn der Durchschnittsmensch männlich ist
Herzinfarkte gelten als klassische Männerkrankheit. Das liegt nicht daran, dass Frauen nicht betroffen wären, sondern im Gegenteil: ihre Symptome unterscheiden sich. Sie haben weniger Brustschmerzen, häufiger Atemnot, Übelkeit, Rückenschmerzen. Weil diese Symptome in der medizinischen Ausbildung und in Studien lange kaum Beachtung fanden, wird der Herzinfarkt bei Frauen oft nicht erkannt. Die Folge: Frauen haben ein 20 % höheres Risiko daran zu sterben.
Dieses Muster zieht sich durch viele Bereiche. Beispielsweise erhalten Frauen ihre Diabetes-Diagnose durchschnittlich 4,5 Jahre später als Männer. In Crashtests mit Transportmitteln werden überwiegend Dummies mit männlichen Proportionen verwendet. Das Ergebnis: Frauen haben ein 47 % höheres Risiko, bei Unfällen schwer verletzt zu werden. Ein weiteres Beispiel gibt es in der Alzheimer-Forschung. Hier fließen nur 12 % der Forschungsgelder in frauenspezifische Studien, obwohl zwei Drittel der Betroffenen Frauen sind.
Caroline Criado-Perez bringt es in ihrem Buch Invisible Women auf den Punkt: Unsere Welt ist für Männer gemacht. Nicht aus böser Absicht, sondern aus historisch gewachsenen Datenlücken. Jedoch benachteiligt dies Frauen systematisch und kostet im Extremfall Leben.
Warum fehlen die Daten?
Der Gender Data Gap ist kein Zufall. Er ist historisch gewachsen und bis heute systemisch verankert. Lange Zeit galten Frauen als „Störfaktor“ in Studien, da sie zu kompliziert, zu hormonell, zu komplex und zu zyklusabhängig sind. Darüber hinaus erheben viele Studien keine geschlechterdifferenzierten Daten oder Frauen werden nicht als eigene Kategorie analysiert. Aus diesem Grund basieren eine Vielzahl von medizinischen Erkenntnissen auf männlichen Probanden. Beispielsweise ist die Standarddosierung von Medikamenten auf den „Durchschnittsmann“ ausgelegt. Frauen wurden und werden einfach mitgemeint und als „kleinerer Mann“ angesehen. Darüber hinaus bestehen unsichtbare Hürden, wie Geschlechterstereotype, welche beeinflussen was und wie erforscht wird. Frauen, insbesondere Mütter haben beispielsweise aufgrund der ungleichen Verteilung der Care-Arbeit gar nicht die Chance an Studien teilzunehmen, da sie zu Hause gebraucht werden. Der Bias sitzt tief, wenn schon Tierversuche vorrangig an männlichen Tieren durchgeführt werden.
Der blinde Fleck der KI
Diese Schieflagen setzen sich in der modernen Technologie fort. Besonders deutlich wird das in der Entwicklung und Anwendung Künstlicher Intelligenz. Und genau hier droht die Datenlücke zur Falle zu werden. KI-Systeme lernen aus Daten. Wenn diese Daten geschlechterblind bzw. überwiegend männlich sind, dann ist es auch das System. Wenn wir nicht jetzt dem Gegensteuern schaffen wir eine digitale Infrastruktur, die die Ungleichheiten der analogen Welt nicht nur widerspiegelt, sondern festschreibt.
Warum eine Fokussierung auf Frauen in der Forschung notwendig ist – und was Österreich tun kann
Frauen sind keine „kleineren Männer“. Sie haben andere Körper, andere Krankheitsverläufe und -symptome sowie andere soziale Bedingungen. Wer diese Unterschiede ignoriert, gefährdet ihre Gesundheit und verpasst Chancen auf Fortschritt.
In Österreich zeigt etwa der aktuelle Frauengesundheitsbericht des Sozialministeriums, dass Frauen im Schnitt 83,7 Jahre alt werden, allerdings davon rund 19,3 Jahre in mittelmäßiger bis schlechter Gesundheit. Im Vergleich bei Männern sind es 16,2 Jahre. Das ist nicht nur ein gesundheitliches, sondern auch ein gesellschaftliches Problem.
Was Österreich jetzt braucht, ist nicht weniger als ein Paradigmenwechsel, daher fordert die Julius Raab Stiftung:
- Förderung frauenspezifischer Forschung
- Verpflichtende geschlechterdifferenzierte Datenerhebung in allen gesundheitsbezogenen Studien und auch bei der Entwicklung von KI-gestützten Diagnosesystemen.
- Integration geschlechtersensibler Perspektiven in bestehende Datenbanken im Spital- und Kassenbereich.
Ein Schritt in die richtige Richtung ist das Pilotprojekt FEM Med, das aus Mitteln der Landesgesundheitszielsteuerung gefördert wird. Umgesetzt vom Institut für Frauen- und Männergesundheit in Kooperation mit dem Büro für Frauengesundheit und Gesundheitsziele sowie der Gendermedizin-Unit der MedUni Wien, zeigt das Projekt, wie geschlechtersensible Forschung und Praxis konkret vorangetrieben werden können. Solche Initiativen gilt es österreichweit auszubauen und langfristig zu verankern.
Warum das alle etwas angeht
Der Gender Data Gap betrifft nicht nur Frauen. Wenn Diagnosen besser werden, sinken die Kosten in unserem Gesundheitssystem. Werden mehr Perspektiven in die Forschung einfließen, steigt die Innovationskraft des Landes. Und wenn die Daten gerechter werden, wird auch die Gesellschaft gerechter.
Chancengerechtigkeit beginnt bei Wissen. Und Wissen beginnt bei Daten.
Quellen:
Global Gender Gap Report 2024 | World Economic Forum
Frauengesundheitsbericht: https://www.sozialministerium.at/dam/jcr:7157d267-ef16-4a8b-8861-56e9cbf54089/Frauengesundheitsbericht_2022_FINAL.pdf
Criado-Perez, Caroline (2020): Invisible women: exposing data bias in a world designed for men. London: Vintage.
Die Autorin
Sonja Moser
Sonja studierte Wirtschaftspädagogik an der Wirtschaftsuniversität Wien. In ihrer Masterarbeit widmete sie sich der Bedeutung von Vorbildern auf Frauen in Führungspositionen in Österreich und deren Umgang mit geschlechterbezogenen Barrieren. Ihr besonderes Interesse gilt der Frage, wie Forschung und Bildung zu mehr Chancengerechtigkeit beitragen können. In der Julius Raab Stiftung engagiert sie sich dafür, diese Perspektiven in gesellschaftspolitische Debatten einzubringen.